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Die Sehnsucht nach Ganzheit

Die Sehnsucht nach Ganzheit

Die Bedeutung des Eros übersteigt populäre Vorstellungen von „Erotik“— er ist die Brücke, die unsere irdische Existenz mit unserer göttlichen Essenz verbindet.

Der Begriff „Eros“ ist in unseren Tage zu einem Synonym für Erotik geworden und bringt Bilder von Rotlichtvierteln und Sexshops in uns hervor. Offensichtlich haben wir uns von den Wurzeln unserer abendländischen Kultur so weit entfernt, dass die ursprüngliche Bedeutung dieses Begriffs aus dem kollektiven Gedächtnis völlig verschwunden ist. Nach Platon ist Eros ist die Kraft, die uns dazu drängt, aus unserem Leben etwas Ganzes, ein Gedicht, ein Kunstwerk zu machen Denn jeder von uns trägt eine einzigartige Wahrheit in sich, die den Entwurf, die ideale Form für sein Leben enthält. Und es ist die leidenschaftliche Liebe des Eros, die uns dazu bringen will, diesem Entwurf in stimmigster und poetischster Weise Gestalt zu verleihen.

Eros ist formschaffende Schöpferkraft

Der Pantomime Marcel Marceau betritt die Bühne. Sein Arm ist ausgestreckt, als hielte er einen Hund an der Leine. Wenn sein Arm ruckweise vor- und zurückschnellt, „sieht“ jeder im Publikum, wie der Hund an der Leine zieht, um am Wegrand an diesem oder jenem zu schnuppern. Der Hund und die Leine sind die lebendigsten Bestandteile der Szene, obwohl es auf der Bühne weder einen Hund noch eine Leine gibt. Es gibt nur den Mann Marceau mit seinem ausgestreckten Arm. Der Rest wird durch unsere Vorstellungskraft als Zuschauer ergänzt.

Offensichtlich gibt es in unserer Psyche die Tendenz, die Lücken zu schließen und die Szene zu vervollständigen, um sie als sinnvoll zu erkennen. Nach Rollo May (1909 bis 1994), dem Mitbegründer der Humanistischen Psychologie und Vertreter der Existenziellen Psychotherapie, gibt es im Menschen eine „Leidenschaft für Form“. Sie zeigt sich nicht nur in der Art, wie wir wahrnehmen, sondern auch wie wir unser Leben gestalten (1).

Diese Leidenschaft für Form, so May, ist unser intensives Bedürfnis, nicht im Unfertigen, Bruchstückhaften steckenzubleiben, sondern unser Leben zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. In jedem therapeutischen Prozess zeigt sich dieses „Ringen um Form“ als eine schöpferische Kraft, die die Gesundung vorantreibt. Sie bringt den Klienten dazu, sich seinem seelischen Chaos zu stellen und seinem Leben einen Sinn zu geben (2). Der griechische Philosoph Platon (427 bis 347) nannte die Leidenschaft, die nach Form drängt, um Sinn zu stiften, Eros (3). Der Begriff „Form“ ist hier nicht als Umriss einer Gestalt zu verstehen, sondern als inneres Ordnungsprinzip und Ziel eines Werdeprozesses.

„Wir wohnen mit unserem Leben einer von uns nicht völlig bekannten, aber doch bereits vollendeten Dichtung bei“ (James Hillman)

Nach Platon gibt es für jedes Ding und jedes Wesen eine Form und damit auch eine Existenzweise, die ihm genau entspricht. Diese ideale Form, das „wesenhaft Passende“, das uns beseelen und erfüllen will, wohnt uns als Potenzial oder als Entwurf inne. Eros drängt uns dazu, so lange über uns hinauszuwachsen, bis dieser Lebensentwurf im Außen Gestalt gewinnt.

Eros, so Platon, ist ein Daimon, ein Mittelwesen, das zwischen Göttern und Menschen steht und zwischen ihnen vermittelt (4).

Eros schlägt die Brücke, die unsere irdische Existenz und unsere göttliche Essenz zu einer Ganzheit verbindet. Diesen Formungs- und Wandlungsprozess nennt Platon poíesis: Poesie, Dichtung oder Gestaltung (5). Poíesis ist ein Erzeugen oder Überführen von Nichtsein in Sein, das uns zu Dichtern und Gestaltern unseres Lebens und der Welt macht.

Die Schönheit ist eine geburtshelfende Göttin (Platon)

Das Hervorbringen neuen Seins — sowohl dem Leibe als auch der Seele nach — ist „eine göttliche Sache und in dem sterblichen Lebenden etwas Unsterbliches“ (6). Und weil Erzeugen heißt, sich mit etwas Gleichartigem zu verbinden, weckt Eros in uns die Liebe zur Schönheit, die ebenfalls von göttlicher Art ist. Wir können also schöpferisch sein, weil wir die göttliche Schönheit selbst in uns tragen oder, anders ausgedrückt, weil es einen geistigen Raum in uns gibt, der sich zum Absoluten, zum wahrhaft Guten und wahrhaft Schönen hin öffnet.

Das Schöne ist auch das Gute

Platon macht keinen Unterschied zwischen dem Schönen und dem Guten. Denn alles, was wahrhaft schön und wahrhaft gut ist, hat Anteil an den ewigen Ideen des Guten und Schönen in der jenseitigen Welt des unaussprechlich Einen, in der nichts mehr getrennt, sondern vereint ist. Das Schöne in einem Menschen zu lieben, heißt deshalb nicht nur, das Schöne seiner äußeren Gestalt, sondern auch das Schöne in der Güte seines Wesens, in der Aufrichtigkeit seiner Motive oder in der Rechtschaffenheit seines Handelns zu lieben (7). Was Eros aber antreibt, ist nicht die Liebe zum Schönen, sondern das Bedürfnis, in der Liebe zum Schönen neues Sein hervorzubringen. Die Schöpferkraft in uns will sich also an der Liebe zum Schönen und Guten immer wieder neu entzünden, um unserem Leben in immer neuen, stimmigeren und lebendigeren Formen Ausdruck zu verleihen.

Eros im Lichte der modernen Psychologie

Die philosophischen Erkenntnisse Platons über den Eros und das Wissen, das die antiken Mythen über ihn vermitteln, finden eine wissenschaftliche Bestätigung in der humanistisch-existenzialistischen Psychologie (8, 9, 10). Ihre Vertreter erforschen eine Stufe der Bewusstseinsentwicklung, die als Stufe der Integration, der Authentizität oder der Selbstverwirklichung bezeichnet wird. Die prägenden Züge dieser Bewusstseinsebene entsprechen den Kräften des Eros. So wirkt ihr Potenzial beispielsweise auf unsere Persönlichkeitsentwicklung wie ein Magnet, dessen Zugkraft uns zu ihr hinaufbringen will (11).

Eine weitere Übereinstimmung liegt in der schöpferischen Qualität dieser Stufe, die sich aus ihrer Besonderheit ergibt: Hier sind zum ersten Mal unsere Körperempfindungen, Gefühle und unser Verstand im Bewusstsein zu einer höheren Einheit integriert. Diese Einheit ist mehr ist als die Summe ihrer Teile, denn sie enthält unser volles Potenzial, das sich aus dem „psychophysischen Fluss“ dieser Ebene ergibt (12). Hier wird das Leben zum Sein in der Gegenwart, und das Handeln entspringt spontan dem schöpferischem Fluss dieser Ebene (13). Hier hat „jede neue Einsicht und jedes echte Kunstwerk seinen Ursprung, und hier ist die Hoffnung auf Fortschritt, auf Erweiterung des Horizonts menschlicher Bestrebungen begründet“ (14).

Weil Körper und Verstand integriert sind, ist unser Geist nicht mehr mit ihnen identifiziert und kann sich höheren Ebenen intuitiver Weisheit und Erkenntnis öffnen.

Hier kommen die schöpferischen Kräfte der Imagination — wie die Fähigkeit zu einer höheren Fantasie — ins Spiel (15). Fantasie als Ausdruck individueller Ganzheit will Sinn in die Beziehung zwischen uns und der Welt bringen und beflügelt dazu unsere Vorstellungkraft. Die visionären Bilder, Ideen und Symbole, die sie hervorbringt, liefern die Entwürfe für ein besseres und schöneres Leben.

Eros in der Praxis

Imaginationstherapien, aber auch neuere Methoden wie das „Seelenschreiben“ des Dokumentarfilmers und Autors Clemens Kuby und die „Psychobionik“ des Physikingenieurs und Therapeuten Bernd Joschko machen sich das Potenzial dieser integralen Ebene zunutze (16, 17, 18, 19). Beiden Ansätzen liegt das Wissen zugrunde, dass alle Erfahrungen unseres Lebens als Informationen im Gehirn in vernetzter Form gespeichert und im Bewusstsein als Erinnerungsbilder abrufbar sind (20). Jede traumatische Erfahrung, die nicht aufgearbeitet wurde, prägt sich unserem Bewusstsein als „Störstelle“ ein. Sie hindert uns nicht nur am vollen Sein, sie kann auch seelisch und körperlich krank machen. Die gute Nachricht aber ist: Die alten neuronalen Verflechtungen können im Innenraum unseres Geistes aufgelöst und ersetzt werden. Denn unser Gehirn ist ein sich selbst organisierendes System ist, das zur Emergenz, zum Hervorbringen neuer Strukturen fähig ist. Sowohl bei Kuby als auch bei Joschko wird dieser Transformationsprozess in einem Zustand tiefer Ruhe und klarer Bewusstheit durchgeführt.

Die Fantasie des Eros ist eine Fantasie der Liebe

Und jetzt, so würde Platon sagen, kommt Eros ins Spiel. Er weckt in uns die Fantasie, die eine Fantasie der Liebe ist, die nichts und niemanden aufgibt und unerschöpflich im Erfinden neuer Möglichkeiten und lebensdienlicherer Wege ist.

Hier — im Innenraum unseres Geistes — gelingt es mit der schöpferischen Kraft der Liebe, die alte Unheilsgeschichte nach und nach in eine Glücksgeschichte umzuwandeln.

Das geschieht beispielsweise, indem wir den Personen in unseren Erinnerungsbildern, die uns einmal das Leben schwer gemacht haben, Mitgefühl entgegenbringen. Wenn wir sie liebevoll umarmen und ihnen vergeben, werden wir erleben wir, dass sie sich vor unserem geistigen Auge verwandeln. Wenn sich aber unsere inneren Bilder, Gedanken und Gefühle verändern, dann verändert sich auch unsere äußere Realität. Dann können seelische und körperliche Wunden heilen, und unser Leben kann zu dem werden, was es eigentlich sein soll: ein Gedicht.


Quellen und Anmerkungen:

(1) May, Rollo: Mut zur Kreativität, Paderborn, Junfermann Verlag, 1987.
(2) Ebenda, Seite 129 bis 134.
(3) Platon: Symposion, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 2008.
(4) Ebenda, Seite 47.
(5) Ebenda, Seite 50.
(6) Ebenda, Seite 51.
(7) Ebenda, Seite 54.
(8) May, Rollo: Der verdrängte Eros, Hamburg, Christian Wagner Verlag GmbH, 1970, Seite 59 bis 60.
(9) Derselbe: Liebe und Wille, Köln, Edition Humanistische Psychologie, 1988, Seite 221 bis 243.
(10) https://deutsche-heilpraktikerschule.de/humanistisch-existentialistische-psychotherapie/
(11) Wilber, Ken: Eros, Kosmos, Logos, Frankfurt am Main, Wolfgang Krüger Verlag, 1996, Seite 104.
(12) Rogers, Carl R.: Entwicklung der Persönlichkeit, Stuttgart, Klett-Cotta Verlag, 1976.
(13) Ebenda, Seite 179.
(14) Schachtel, Ernest: Metamorphosis, New York, 1959, zitiert nach Wilber, Ken: Das Atman-Projekt, Paderborn, Junfermann Verlag, 2001, Seite 91.
(15) May, Rollo: Liebe und Wille, Köln, Edition Humanistische Psychologie, 1988, Seite 278.
(16) Kuby, Clemens: Mental Healing. Das Geheimnis der Selbstheilung, München, Kösel-Verlag, 2020.
(17) https://www.youtube.com/watch?v=WPc9kP_MdOg
(18) https://psychobionik.de/
(19) Stachowiak, Marina: Psychobionik, Ahlerstadt, Param Verlag, 2008.
(20) Ebenda, Seite 21 bis 27.


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